Zeitzeugen-Gespräche
Abendliche Telefonate mit Gisela Herzog, Jahrgang 1926 I Akustik-Ingenieurin des Funkhauses Nalepastraße
Dienstag, 14. Januar, gegen 21 Uhr ruft mein Handy. Am anderen Ende eine schwierig verstehbare, ältere Frauenstimme. Im Display eine mir unbekannte Mobilnummer. Die Stimme kennt meinen Namen und bittet mich um Rückruf. Es dauert ein paar Wechselworte, bis ich begreife, dass dieser Anruf von der legendären Akustikerin des Funkhauses Nalepastrasse, von Gisela Herzog, kommt. Man wird nicht alle Tage abends vom Handy einer 99-jährigen Ingenieurin angerufen.
Persönlich einander noch nicht bekannt, hatte ich sie vor Wochen per Festnetz angerufen, weil ich mir von ihr, als der einzigen noch lebenden engen Mitarbeiterin des Funkhaus-Architekten Franz Ehrlich (1907-84) eine Auskunft zu den imposanten Foyertüren der Orchesterstudios Saal 1 und Saal 2 erhoffte. Seitdem ich Führungen durch den 1952-56 gebauten Studioblock B mache, faszinierten mich bei jedem Aufschließen diese von Kunsttischlern gearbeiteten Schmucktüren und ich rätselte, aus welchem Holz wohl ihre Kassettierung gemacht sei? Ihre Türblätter bestehen nicht, wie üblich, aus getäfelten Rahmen sondern aus massiven, tiefbraun gemasertem Edelholz. Ist es Palisander? Teakholz? Oder Walnussbaum? Als Mitarbeiterin des Architekten hätte es doch sein können, dass Frau Herzog eine Antwort darauf weiß ...
Zunächst bekam ich damals harsche Repliken von ihr zu hören: Das seien doch lediglich Außentüren der Studios! Für die Raumakustik der Aufnahmesäle überhaupt nicht relevant. Woher solle sie das denn wissen? Als Akustikerin hatte sie damit ja überhaupt nichts zu tun! „Entschuldigen Sie bitte“, räumte ich ein, „da haben Sie recht, ich dachte nur, dass Ihnen das zufällig bekannt ist …“ Es folgte aus ihrem Munde eine umfängliche Erläuterung ihrer damaligen Aufgaben, Zuständigkeiten und vielen weiteren Wirkungsstätten in Adlershof, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Schwerin etc.
Als ich ihr schließlich erzählte, dass ich seit Frühjahr 2024 in Nachfolge des Radio-Journalisten Wolfhard Besser an der Seite der früheren Musikredakteurin Elisabeth Heller als Guide regelmäßige Führungen durchs Funkhaus Nalepastraße bestreite, begann sie mich nach dem aktuellen Zustand der dortigen Räume zu befragen und registrierte mit Wohlwollen, dass ich vor langen Jahren (1980-90) in den Hörspielstudios H1 und H2 als Regieassistent und Dramaturg gearbeitet hatte und selbstverständlich auch den Radio- und Konzertsaalexperten Gerhard Steinke kenne – den zweiten der noch lebenden altvorderen Kenner ostdeutscher Funkhäuser. Ebenso die Ostberliner Hörspiel-Toningenieure Klaus Bechstein, Jürgen Meinel, Peter Kainz und Andreas Meinetsberger.
Während unserer folgenden abendlichen Plauderei am Telefon schälten sich aus ihren Rückblicken sehr plastische Erinnerungen an den Bau des Funkhauses, und sie berichtete, wie sie als damals 25jährige Potsdamer Ingenieurin dem Architekten Franz Ehrlich assistierte, der mit hohem Anspruch und Geschmack die Ästhetik der Aufnahmeräume, Foyers und Konferenzräume mit allen ihm zur Verfügung stehenden Materialien gestalterisch aufzufächern trachtete. Dabei traf es sich, dass sein Rundfunk-Projektant Lothar Keibs (1908-79) auf der Suche nach hochwertigen Studio-Lautsprechern im Jahre 1951 im Septemberheft der JASA – dem „Journal of the Acoustical Society of America“ - einen Fachartikel zur Berechnung strukturierter Oberflächen entdeckt hatte: Ein mir unfassbares Faktum, wie die unter Zeitdruck stehenden Erbauer des neuen ostdeutschen Rundfunkzentrums von einer taufrischen Publikation aus den USA profitierten, die inmitten des anglo-amerikanisch total zerbombten Berlins in der zerstörten Staatsbibliothek unter den Linden einsehbar war. Frau Herzog schien mein ungläubiges Staunen darüber gespürt zu haben, wir beendeten unser Telefonat, wünschten uns einander ein gesundes Neues 2025, und dürften beide an jenem Abend nur schwer in den Schlaf gefunden haben.
Wie ich das ehrgeizige Architekten-Genie Ehrlich und seinen Elektroakustiker Keibs – beide Herren damals Mitte Vierzig - einschätzte, haben sie ihre ebenso hochmotivierte junge Akustikerin Fräulein Krankenhagen, spätere Frau Herzog, mit Fachwörterbuch bewaffnet umgehend in die „Stabi“ beordert, um besagten Artikel ins Deutsche zu übersetzen und alle nötigen Formeln zu notieren. Vorlage: morgen früh.
Franz Ehrlich, dem von Anbeginn vorgeschwebt haben muss, das Innere der Tonstudios mit erlesenen Furnierplatten und modernen Akustikmaterialien wie Kunstleder und Filz auszukleiden; der den schnöden Alltagsschall in den Foyers und Korridoren mit Holz- und Gipselementen an den Decken zügeln wollte, musste die Möglichkeit, die klanglichen Wirkungen solcher strukturierten Flächen künftig vorausberechnen zu können, in schöpferische Hochform katapultiert haben. Eine Hochzeit akustischer Zwecke mit der Exzellenz ästhetischer Raumgestaltung.
Mit einem erneuten Anruf bedankte sich Wochen später die sich bald im 100. Lebensjahr befindende Gisela Herzog für die Neujahrskarte*, die ich ihr geschickt und auf der ich mich per Selbstauslöser eine Laterne schwenkend im Saal 1 fotografiert hatte. Der hauptsächliche Grund dieses weiteren Abend-Telefonats war indes ihr Bedürfnis, mir Autoren, Titel und genaue Quelle des von ihr erwähnten Fachartikels zu belegen: Karl Uno Ingård und Richard Henry Bolt: „Absorption Charakeristics of Acoustical Material with perforated Facings“, JASA, September 1951, Volume 23, Issue 5, Pages 509-591“.
Mir war klar, dass sie damals fortan für Franz Ehrlich unzählige Male Parameter aller möglichen halbdurchlässigen Wand- und Deckenverkleidungen zu berechnen hatte, Holzprofile mit stilisierten Violinschlüsseln, Lochmasken mit ornamentalen Blüten-Aussparungen in Nussbaumholz, siebartige Gipselemente mit gereihten Rundkanälen usw. usf. - Berechnungen, die sie keineswegs am anderen Morgen zu Dienstbeginn vorlegen konnte.* Tage und Nächte lang rechnete sie daran, damals 1951 immer ohne jegliche Maschinenhilfe. Alles mit Rechenschieber und Logarithmen-Tafel! Lauter komplizierte, endlose Integral- und Differential-Formeln waren das. Chapeau Madame!
Inzwischen weiß ich, aus welchem Holz die kassettierten Schmucktüren zu Saal 1 und 2 getischlert sind. Bei einer Führung hielt ein Besucher seine Handykamera ans Holz. Es sei Mahagoni, zeigte ihm die KI. Hätte ich eigentlich auch machen können. Wären mir aber die abendlichen Telefonate mit einer 99-jährigen Frau entgangen – der bewundernswerten Akustikerin Gisela Herzog.
Matthias Thalheim
* Die exzellenten Akustiken aller Aufnahmesäle und Studioräume des Funkhauses Nalepastrasse beruhen auf den Berechnungen, Schallmessungen und baulichen Korrekturvorschlägen der Akustikerin Gisela Herzog.
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